Türkische Armee marschiert in Afrin ein – Furcht vor Gewalt

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2012

Von: Jan Jessen

Die türkische Armee hat die Stadt Afrin in Nordsyrien erobert, Hunderttausende flüchten. Doch ein Ende des Feldzugs ist nicht in Sicht.

Durch das Stadtzentrum von Afrin hallt das Stakkato von Schüssen — als Ausdruck der Freude, die bärtigen Männer rufen unentwegt „Allahu Akbar“ („Gott ist größer“). Mit einem Bagger reißen sie die Statue von Kawa nieder, dem Schmied aus der kurdischen Mythologie, der einst den Despoten Dohak mit seinem Hammer erschlagen haben soll.

Afrin-Stadt ist gefallen. Nach dem Sieg der türkischen Armee und ihrer islamistischen Verbündeten wächst in der mehrheitlich von Kurden bewohnten Region im Norden Syriens die Furcht vor Vergeltung, Massakern und weiteren Angriffen.

Feldzug geriet immer wieder ins Stocken

Die türkische Armee hatte vor zwei Monaten ihren Feldzug gegen das Kurdengebiet gestartet, das seit 2012 von der YPG-Miliz kontrolliert wird. Die YPG gilt in der Türkei wegen ihrer engen Verbindungen zur kurdischen Arbeiterpartei PKK als Terrororganisation. Für den Westen war die YPG in den vergangenen Jahren der engste Partner im Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS).

Im hügeligen, von den Regenfällen der vergangenen Wochen aufgeweichten Gelände und wegen des erbitterten Widerstands der kurdischen Milizionäre geriet der Feldzug immer wieder ins Stocken. Am Sonntag verkündete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Einnahme von Afrin. Die Stadt sei seit dem Morgen vollständig unter Kontrolle der türkischen Armee. „Wir sind nicht dort, um zu besetzen, wir wollen Terrorgruppen ausradieren und den Frieden erreichen“, so Erdogan.

YPG wechselt in Guerilla-Modus

Kurdische Quellen berichteten noch von anhaltenden Kämpfen, andere vermeldeten, die YPG habe sich zurückgezogen, um die Zerstörung Afrins zu verhindern. Die Kämpfer würden von nun an direkte Konfrontationen mit der türkischen Armee vermeiden, sagte einer der Vorsitzenden des Exekutivrates der Region Afrin.

Der Gegner werde aber weiter angegriffen. Die kurdischen Milizen würden ein „ständiger Albtraum“ der Besatzer werden. Die Region um die Stadt war in den vergangenen Jahren vom Bürgerkrieg verschont geblieben, weswegen sich dorthin Hunderttausende Flüchtlinge aus anderen Landesteilen gerettet hatten.

Schon Hunderte Zivilisten getötet

An den friedlichen Absichten der türkischen Eroberer gibt es berechtigte Zweifel. Aus Afrin kamen zuletzt nur noch selten Bilder und Videos heraus. Auf ihnen sind verstörende Szenen zu sehen. Freitagnacht sollen bei einem Granatenangriff auf das Krankenhaus von Afrin 16 Menschen gestorben sein, berichtete die in London ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Bislang sollen nach ihren Angaben mehr als 260 Zivilisten getötet worden sein. Kurdische Quellen melden bis zu 500 tote Zivilisten.

Bis zu 200.000 Menschen sollen nach Angaben der Beobachtungsstelle seit Mitte vergangener Woche das Kampfgebiet verlassen haben. Bilder, die in den vergangenen Tagen im arabischen Fernsehen gezeigt wurden, zeigten die Flüchtlingstrecks. Auf der Straße von Afrin in sicheres, vom syrischen Regime kontrolliertes, Gebiet stauten sich die Fahrzeuge. Traktoren mit Anhängern, darauf müde, verängstigte Gesichter, Frauen, alte Männer, Kinder, Autos und Lastwagen.

Milizen sollen Kriegsverbrechen begangen haben

Andere waren zu Fuß unterwegs, schleppten ihre Habseligkeiten über den regennassen Asphalt. Bei der Eroberung von Dörfern und Städten sollen die mit der Türkei verbündeten arabischen Milizen Kriegsverbrechen begangen haben.

Viele dieser Einheiten bestehen aus islamistischen und dschihadistischen Kämpfern, aus ihrer Gesinnung machen sie keinen Hehl. Es kursieren Videos von Leichenschändungen und Morden. Kämpfer beschimpfen in Videos Angehörige der jesidischen Minderheit als „Schweine“ und drohen Kurden, ihnen die „Köpfe abzureißen“, falls sie nicht dem „Ruf des Islam“ folgen.

„Kein Dorf mehr, in dem jesidisches Leben existiert“

In der Region Afrin lebten bis zu dem türkischen Einmarsch etwa 15.000 Jesiden. Sie sind jetzt alle auf der Flucht, berichtet Irdan Ortac, der Vorsitzende des Zentralrats der Jesiden in Deutschland. „Wir haben kein Dorf mehr, in dem jesidisches Leben existiert.“ Die wenigen verbliebenen alten Menschen seien festgenommen worden, andere seien spurlos verschwunden.

Die Eroberer zerstören religiöse Stätten, sie haben einen uralten heiligen Baum angezündet. „Das ist so, als würden wir in eroberten Städten menschenleere Moscheen in die Luft jagen“, sagt Ortac. Er hat große Angst vor der Zukunft. „Wir befürchten, dass die Dschihadisten Massaker verüben werden. Wir sind verzweifelt.“

Als nächstes will Erdogan Manbidsch erobern

Der Fall von Afrin soll nicht das Ende des Feldzugs sein. Erdogan hat bereits angekündigt, auch von der YPG kontrollierte Gebiete weiter im Osten anzugreifen. Als nächstes will er sich Manbidsch vornehmen, eine Stadt, die von der YPG und mit ihr verbündeten Milizen im Sommer 2016 nach verlustreichen Kämpfen vom IS befreit wurde.

Damals unterstützten die USA die YPG mit Luftangriffen. Ob sich Washington jetzt zwischen die Kurden und den Nato-Partner Türkei stellen wird, daran wachsen in diesen Tagen die Zweifel bei den Menschen in der Region.

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