„Das wird keine normale Wahl“

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Wenige Tage vor den Parlamentswahlen erschüttert ein schwerer Terroranschlag Großbritannien. Die Regierung berät derzeit über Reaktionen. Im DW-Interview analysiert der Politikwissenschaftler Anthony Glees die Folgen.

Herr Professor Glees, nach den Terroranschlägen vom Samstag haben die Parteien den Wahlkampf zumindest kurzzeitig ausgesetzt. Lässt sich schon abschätzen, welche politischen Folgen die Attacke so kurz vor den wichtigen Parlamentswahlen haben wird?

Anthony Glees: Die Folgen können sehr schwerwiegend werden: nicht nur für die politischen Parteien, sondern auch für deren Führer. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat die ganze Zeit gesagt, er sei dagegen, angebliche Terroristen einfach zu erschießen. Aber die drei Täter gestern Abend wurden erschossen. Was wird er dazu sagen?

Wir wissen, dass es ungefähr 23.000 verdächtige Dschihadisten in Großbritannien gibt. Die können wir aber gar nicht kontrollieren, weil Theresa May als Innenministerin 2010 diese Kontrollen abgeschafft hat. Beide Führer der großen Parteien stehen in einem schlechten Licht. Auch die Sicherheitsdienste stehen in einem schlechten Licht. Nach dem Anschlag von Manchester wurde die Terrorwarnstufe erst erhöht, dann wieder gesenkt. Das bedeutet, dass die Behörden überhaupt keine Ahnung von dem bevorstehenden Anschlag hatten.

Die damalige Innenministerin May hat auch Einschnitte bei der Polizei zu verantworten. Auf der anderen Seite trauen die Bürger bei der Inneren Sicherheit häufig den Konservativen mehr Kompetenz zu als den Linken. Was wiegt da schwerer?

Ich nehme an, dass die Tories als Partei besser dastehen werden als Labour. Auch wenn Tories und Theresa May schwere Fehler gemacht haben, sind die Tories ideologisch auf der Seite einer harten Antwort auf Terrorismus. Labour unter Jeremy Corbyn, der bekanntlich mit der IRA sympathisiert hat, hat sich im Wahlkampf nicht nur gegen den Schießbefehl ausgesprochen, sondern auch für Verhandlungen mit Terroristen.  Aber jeder Brite sieht: Die Terroristen wollen nicht am Tisch sitzen, sondern den Tisch in die Luft sprengen.

Nach jedem Anschlag werden Polizeikräfte mobilisiert, kondolieren ausländische Staats- und Regierungschefs und bekunden ihre Solidarität. Aber es ändert sich im Prinzip nichts. Ist die Politik hier machtlos?

Die Politik ist machtlos, weil Großbritannien in einer sehr schwierigen Lage ist. Wir haben im vergangenen  Jahr für den Brexit gestimmt, ohne dass uns irgendein Politiker sagt, was der Brexit eigentlich bedeutet. Es ist so, dass wir jetzt in einem Land leben, das nicht weiß, wie es Sicherheit garantieren soll und nicht weiß, wohin der Staat in den nächsten Jahren gehen soll. Dadurch sind wir auch leicht anzugreifen. Wir sind verwundet.

Wir haben noch keine Informationen über die Urheber des Anschlags, aber es gibt natürlich den Verdacht, dass es erneut Islamisten waren. Sollte es so sein:  Welche spezifischen Gründe gibt es, dass es vergleichsweise häufig Großbritannien trifft?

Das hat geschichtliche Gründe, da wir eng mit den USA verbündet sind, aber es hat auch gesellschaftliche Gründe. Die Tatsache, dass wir schwach geworden sind und auch von unseren Feinden so gesehen werden, hat Folgen. Es ist wie im Dschungel: Verwundbare Tiere werden angegriffen. Das ist das politische Problem, das die Regierung anfassen wird. Es kann gut möglich sein, dass die Wahlen jetzt nicht stattfinden am Donnerstag. Auch wenn sie stattfinden, wird es keine normale Wahl sein: wegen des Terrors und wegen der Unsicherheit über die Bedeutung des Brexit.

Die Briten sind dafür bekannt, dass sie bislang besonnen auf die Terroranschläge reagieren. Sehen Sie die Gefahr, dass sich daran etwas ändern könnte?

Sie haben Recht. Die Briten sind besonnen. Der Bürgermeister von London, ein Muslim, hat gesagt: Wir lassen uns unsere Lebensweise von den Terroristen nicht zerstören. Das wäre ein Sieg für den Terrorismus. Wir werden so weitermachen, wie bisher. Aber die große Frage ist: Wenn wir so weitermachen, dann wird sich Terrorismus immer weiter steigern. Und ich glaube nicht, dass die Bevölkerung des Landes das einfach so hinnehmen will. Irgendetwas muss sich jetzt hart ändern. Wenn nichts geschieht, dann könnten einige Leute die Sache in die eigene Hand nehmen. Die große Mehrheit der Muslime, die nichts mit Terror zu tun haben will, ist auch in einer sehr schwierigen Lage.

Der französische Präsident François Hollande hat drei Tage nach den Anschlägen von Paris einen Angriff auf die Islamisten in Raqqa durch die französische Luftwaffe befohlen. Wir haben in Großbritannien, auch als vor zwei Wochen unsere Kinder in Manchester attackiert wurden, nichts getan. Es kann sein, dass die Stimmen jetzt lauter werden, dass wir wirklich etwas neues anfangen.

Anthony Glees ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität im britischen Buckingham. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Sicherheitspolitik in Großbritannien.

Die Fragen stellte Andreas Noll.

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